Launch unseres neuen Kurses „Menschenrechte & Beschwerdemanagement“ für die Produktion im globalen Norden.
Bisher waren unsere User nur in Produktionsstätten in der Lieferkette – jetzt haben wir ein digitales 4-6-wöchiges Menschenrechtstraining auch für Europa (Tier 0) entwickelt.
Unsere User sind vor allem in Fabriken in China, Bangladesch, Indien und Pakistan. Unsere Trainings haben wir speziell für das Lernen in Produktionsumgebungen entwickelt, in einfacher Sprache und mit Vorlesefunktion. Mit einem klaren Lernpfad, vielen Bildern und wenig Text. Microlearning, um relevante Inhalte schnell zu verstehen und mit einem Fokus auf die Themen, die ein hohes Risiko haben, die Compliance nicht zu erfüllen.
In Folge des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) kamen vermehrt Anfragen, ob wir ein Menschenrechtstraining auch für die Mitarbeitenden in der Produktion in Europa entwickeln könnten, genauso wie für Asien mit individuellem Login und Schulungsnachweis und auf eine Art, die Spaß machen darf. Denn in deutschen Produktionsstätten ist inzwischen eine gewisse Müdigkeit eingetreten, was digitale Schulungen betrifft. Konventionelles ELearning mit viel Text und Multiple Choice Fragen wird häufig als lästige Unterbrechung gesehen, etwas, das man schnell hinter sich bringen muss. In unseren ersten Interviews mit Schichtmeistern und Fachkräften fielen Sätze wie „was die Leute lernen, ist eigentlich egal, Hauptsache man kann nachweisen, dass es gemacht wurde, und man ist aus der Haftung raus“, oder „Wir lesen die Texte nicht, beantworten einfach die Fragen am Ende, und damit es schneller geht, lassen wir uns die Antworten von Kollegen schnell diktieren.“ Unser Ansatz von „gamified Microlearning“ (also Lerninhalte zu reduzieren auf Wesentliches und diesen in kleine Lerneinheiten zu verpacken) ist nicht nur ein „Beyond Auditing“ (d.h. weg von punktuellen Kontrollen hin zu Kollaboration mit Lieferanten und gemeinsamen Capacity Building) sondern auch eine „Beyond eLearning“ (d.h. auch hier eine Weiterentwicklung von für westliche Büroumgebungen konzipierten Lernansätzen) Lösung.
Als Spezialisten für Fabriken in der Lieferkette im Ausland waren wir uns zuerst nicht sicher, ob wir uns an Tier 0 heranwagen sollten, mit all den neuen Anforderungen, die auf uns zukommen würden. Anforderungen nicht nur aufgrund einer anderen Zielgruppe, sondern auch technisch im Sinne von Serverstrukturen und Berücksichtigung der DSGVO. Wir haben uns entschieden unser Angebot um einen (westlichen) Kulturkreis zu erweitern, weil wir uns für nachhaltige Bildung einsetzen – ob das nun in China oder Deutschland ist, ist zweitrangig. Im April 2022 haben wir basierend auf Design Thinking und agilem Projektmanagement mit der Produktentwicklung begonnen und nach sieben intensiven Monaten freuen wir uns nun über den Launch unseren neuen Kurses „Menschenrechte & Beschwerdemanagement“!
Wir verfolgen einen risikobasierten Ansatz
Das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz fordert in §6 Präventionsmaßnahmen auch in Form von Schulungen in den relevanten Geschäftsbereichen. Basierend auf unserer Kernkompetenz fokussieren wir uns auf die Mitarbeitenden in der Produktion (blue collar) und bilden industrielle Lernumgebungen ab.
Bei der Entwicklung eines eLearning Kurses für Menschenrechte für Europa war uns wichtig, den Schwerpunkt auf Themen zu legen, die für die Mitarbeitenden in der Produktion verständlich und nachvollziehbar sind. Mitarbeitende in der Personalabteilung oder in der Beschaffung müssen in anderen Themen geschult werden, als Mitarbeitende in der Produktion. Auch wenn z.B. Menschenrechte das Recht auf eine saubere Umwelt miteinschließen, ist es ausreichend, wenn Fachkräfte verstehen, inwieweit Ökologie mit Menschenrechten zu tun hat, ohne aber spezifisches Fachwissen wie Minamata, Stockholm- oder Basel-Konvention zu vermitteln.
Das heißt, es wird das gelehrt, was auch wirklich für die Zielgruppe relevant ist und wofür auch in Europa ein hohes Risiko für Menschenrechtsverletzungen besteht. Für die Belegschaft in der Produktion ist es wichtig zu verstehen, was Menschenrechte sind, wann sie verletzt werden, und wie man damit umgehen sollte.
Unser elearning für Menschenrechte fokussiert sich auf Anti-Diskriminierung
Nach Analysen aller menschenrechtlicher Themen haben wir uns daher entschieden, den Schwerpunkt in unserem Menschenrechtstraining auf Anti-Diskriminierung zu legen. Wir behandeln aber auch andere Themen, die Arbeitnehmerrechte und – pflichten betreffen. Teilweise gehen wir auch auf Menschenrechtsverletzungen ein, die idealerweise in Deutschland nicht (mehr) vorkommen. Trotzdem muss immer wieder bewusst gemacht werden, dass auch Einzelfälle, die nicht die Regel sind, thematisiert werden müssen. Ein Menschenrechtstraining ist primär eine Präventionsmaßnahme und daher müssen auch Missstände thematisiert werden, die im ersten Eindruck sehr weit weg von der realen Arbeitssituation zu sein scheinen.
Im Bereich Menschenrechte musste etwas mehr mit Text gearbeitet werden als in unseren Trainings für Arbeits- und Gesundheitsschutz
Da wir ja den Anspruch haben, Text so wie wie möglich zu reduzieren, haben wir in unseren Kursen für Arbeits- und Gesundheitsschutz sehr viel mit Fotos und Illustrationen gearbeitet. Auch wenn dies im Kurs „Menschenrechte & Beschwerdemanagement“ immer noch ein wesentlicher Aspekt unseres Ansatzes ist, mussten wir hier trotzdem etwas mehr mit Text arbeiten, weil viele Themen schwer ausschließlich visuell darstellbar sind. Hier mussten wir immer wieder justieren, welche Tonalität und welche genaue Wortwahl die Lebenswirklichkeit der User auch wirklich widerspiegelt. Wenn wir auf das fertige Produkt schauen, wirkt alles vollkommen logisch.
Aber es gab viele Themen, die immer wieder besprochen und überarbeitet wurden, und wofür es manchmal kein richtig oder falsch gibt, aber letztendlich muss trotzdem entschieden werden.
Statt eines Fortschrittsbalkens nutzen wir einen Zeitstrahl für die ablaufende Zeit einer Schulungseinheit.
Ein Fortschrittsbalken dient dazu eine sog. „Erlebniskategorie“ zu bedienen, nämlich „Fortschritt bemerken“. Die Gestaltung für solche Kategorien ermöglicht positive Erlebnisse bei der Nutzung. Gerade wenn Mitarbeitende in ihrer Arbeitszeit geschult werden, ist es für Arbeitgeber:innen im industriellen Umfeld wichtig, genau planen zu können, wie lange Mitarbeiterinnen in der Produktion ausfällt, also nicht für die üblichen Tätigkeiten zur Verfügung steht.
Daher haben wir einen „Zeitbalken“ entwickelt. Dieser dient zur Abbildung der zeitlichen Limitierung für die Lernenden, damit sie sich nicht in den Spielen verlieren. Außerdem wird dadurch der Fokus darauf gelegt, dass nicht Schnelligkeit belohnt wird (also je schneller ich durch eine Lerneinheit gehe, desto besser), sondern die tiefe Auseinandersetzung mit dem Inhalt.
Vieles war anders in der Produktentwicklung für Deutschland als für die Lieferkette im globalen Süden – ein kleiner Einblick über unsere Herausforderungen.
In der Produktion in Deutschland gibt es weniger ungelernte Fachkräfte.
Im globalen Süden sind die Arbeiter:innen meist ungelernt. Bildung hängt nicht von der Intelligenz, sondern von der finanziellen Situation der Eltern ab. Im deutschen Industrie-Kontext hingegen sind Mitarbeitende in der Produktion häufig technische Expert:innen mit mittleren und höheren Bildungsabschlüssen und vorwiegend männlich. Das hat uns vor interessante Fragen gestellt: Es gibt bisher pro Kulturversion sechs Avatare zur Auswahl. Bisher waren diese 50% weiblich und 50% männlich. Die Geschlechterverteilung in Produktionsbetrieben ist in Deutschland allerdings 80% bis 99% männlich. Sollten also vier Avatare männlich, und nur zwei weiblich sein? Wir haben uns entschieden, eine paritätische Verteilung beizubehalten, auch um (den wenigen) weiblichen Usern entsprechende Chancengleichheit zu signalisieren.
User in Deutschland sind an konventionelle eLearnings gewöhnt.
Während in Asien Arbeiter:innen noch nie individuelle Schulungen bekommen haben, sind Mitarbeitende in Deutschland häufig gelangweilt von ständigen Unterweisungen und Schulungen. Daher ist die Frustrationstoleranz niedriger, und die Offenheit zu Beginn etwas weniger. Und hier sind die Menschen in Asien und in Deutschland wieder gleich: Weniger Lesen, mehr Interaktivität und mehr Gamifizierung macht mehr Spaß!
Wir haben uns gegen Gendern entschieden.
Auch das Thema Gendern muss in Deutschland diskutiert und an den Unternehmenskontext angepasst werden. Wir haben uns letztendlich dagegen entschieden, weil wir riskiert hätten, dass dies von der Zielgruppe eher belächelt wird. Hier gibt es wohl kein richtig oder falsch, und möglicherweise muss hier auch in der Zukunft auf gesellschaftliche Entwicklungen reagiert werden. So haben wir uns entschieden, mit Beispielen zu variieren, also teilweise die weiblichen Formen und teilweise männliche zu verwenden. Damit bilden wir Geschlechtervielfalt ab, ohne dass wir die gesamte Sprache anpassen. Damit gefährden wir die Akzeptanz des Trainings nicht und werden trotzdem unserem Anspruch auf Geschlechtergleichheit gerecht.
Ohne Sprachbarrieren bekommt man ehrliches und direktes User Feedback sehr viel leichter.
Bei unseren Produkttests in Asien war es oft schwierig, auch kritisches Feedback zu bekommen. Denn Feedback erfordert das Vertrauen, dass Kritik keine negativen Konsequenzen mit sich bringt und die Fähigkeit Gedanken und Gefühle zu verbalisieren. Wenn dann auch noch Vertreter:innen einer NGO, Übersetzer:innen und deutsche Produktentwickler:innen daneben sitzen, wird das User Testing zur Herausforderung. Das war in Deutschland in einer vertrauensvollen 1:1 Umgebung sehr viel einfacher. Hier konnten wir mit „Lautem Denken“ sehr viel wertvollen Input bekommen, den wir im Sinne einer agilen Produktentwicklung dann auch direkt integrieren konnten.
Der Betriebsrat ist in Deutschland ein wichtiger Stakeholder – in Asien hingegen mussten wir Mitbestimmung für unser digitales Menschenrechtstraining aktiv einfordern.
Gerade was den Schutz persönlicher Daten betrifft, würde die Anonymität bzw. Pseudonymität von Usern eigentlich Vieles erleichtern. Betriebsräte möchten die Mitarbeitenden vor Konsequenzen schützen, wenn z.B. Trainingsergebnisse weniger zufriedenstellend sind. Demgegenüber steht das Interesse des Arbeitgebers, auch zu dokumentieren, welchen Erfolg z.B. unser Menschenrechtstraining hatte, bzw. welche Mitarbeitenden auch wirklich alle Trainingseinheiten absolviert haben. Nach intensivem Austausch mit Datenschutzbeauftragten und Betriebsräten haben wir uns entschieden, dass zwar keine Endergebnisse bekannt werden, aber dass alle Mitarbeitende, die vier Sitzungen abgeschlossen haben oder auch nicht, namentlich gelistet werden. Nur so kann gemessen werden, ob die gesteckten Lernziele auch unternehmensweit erreicht wurden.
Ein Menschenrechtstraining dient der Bewusstmachung und nicht dazu, Faktenwissen zu generieren. Eigene Standpunkte sollen reflektiert und ggf. justiert werden. Und trotzdem müssen HR-Abteilungen bzw. Compliance auch Nachweise haben über Schulungserfolge bzw. Beteiligungen, so dass nicht in allen Bereichen Anonymität gewährt werden kann.
Wir haben unser Schriftbild angepasst.
Auch wurde bisher das Feedback in Großbuchstaben geschrieben (GUT GEMACHT!), letztendlich haben wir uns entschieden, in üblicher Groß- und Kleinschreibung Feedback zu geben. Zum einen wird es von manchen Personen als „schreien“ wahrgenommen und zusätzlich kann als Rückmeldung zu einer einzelnen Aufgabe etwas überzogen wirken, als hätte man der Person gar nicht zugetraut, diese Leistung zu erbringen.
Wir freuen uns, dass wir nun auch in Europa in neuen Ländern aktiv sein können, und weitere Themen im Bereich der sozialen Nachhaltigkeit abdecken können. Wir hoffen, dass immer mehr Länder, Organisationen und Führungskräfte den Wert von Bildung erkennen.
Vielen Dank auch an die HdM und das Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Usability für die wissenschaftliche Unterstützung!